Glimmers im Alltag: Wie kleine Momente uns durch fordernde Phasen tragen

Einleitung
Manchmal fühlt sich der Alltag schwer an, ohne dass es einen klaren Grund gibt.
Nicht dramatisch. Nicht „zu viel“.
Aber konstant fordernd.
Gerade dann suchen wir oft nach großen Lösungen: mehr Auszeit, mehr Ruhe, mehr Veränderung. Doch was, wenn unser Nervensystem etwas ganz anderes braucht?
Nicht mehr.
Sondern kleiner.
In der Psychologie gibt es dafür einen Begriff: Glimmers.
Was sind Glimmers?
Der Begriff Glimmers wurde von der Traumatherapeutin Deb Dana geprägt.
Er beschreibt das Gegenstück zu Triggern.
Während Trigger unser Nervensystem in Alarm versetzen, sind Glimmers:
kleine, oft unscheinbare Momente, die dem Nervensystem signalisieren:
Ich bin sicher.
Ein warmer Sonnenstrahl im Gesicht.
Das Geräusch von Schritten im Schnee.
Der erste Schluck Kaffee am Morgen.
Ein Blickkontakt, der hält.
Glimmers sind keine Technik.
Sie sind Wahrnehmung.

Warum Glimmers gerade im Mama-Alltag so wichtig sind
Viele Mütter leben dauerhaft in einem Zustand leichter Anspannung:
denken, planen, fühlen mit, reagieren.
Auch wenn objektiv „alles passt“, ist das Nervensystem oft im Dauer-Bereitschaftsmodus.
Glimmers wirken hier nicht, weil sie Probleme lösen –
sondern weil sie dem Körper zwischendurch etwas geben, das im Alltag oft fehlt:
Regulation.
Sie helfen dem Nervensystem, immer wieder kurz aus dem Alarm- oder Funktionsmodus auszusteigen und in einen Zustand von Sicherheit zurückzufinden.
Und genau das macht langfristig einen Unterschied.
Glimmers sind keine Selbstoptimierung
Wichtig ist:
Glimmers sind keine neue To-do-Liste.
Du musst sie nicht „einbauen“, nicht festhalten, nicht bewusst erschaffen.
Viele Glimmers sind bereits da –
wir nehmen sie nur oft nicht wahr, weil unser Blick nach vorne, oben oder außen gerichtet ist.
Glimmers entstehen nicht durch Anstrengung.
Sondern durch Erlaubnis.

Beispiele für Glimmers im Alltag
Glimmers sehen für jede Person anders aus.
Ein paar mögliche Beispiele:
- das leise Atmen deines Kindes im Schlaf
- warmes Wasser an den Händen
- ein vertrauter Geruch
- das Rascheln von Blättern
- Musik, die etwas in dir löst
- ein kurzer Moment, in dem niemand etwas von dir will
Es geht nicht um Schönheit.
Es geht um Wirkung.
Wie du Glimmers wahrnehmen kannst
Statt dir vorzunehmen, mehr Glimmers zu „machen“, kannst du dich fragen:
- Was fühlt sich für mich gerade ein kleines bisschen sicher an?
- Wann atmet mein Körper unmerklich auf?
Manchmal reicht es, diesen Moment innerlich zu bemerken.
Ohne ihn festzuhalten.
Ohne ihn zu bewerten.
Warum kleine Momente tragen können
Glimmers verändern nicht sofort den Alltag.
Aber sie verändern, wie wir ihn durchstehen.
Sie erinnern das Nervensystem daran, dass es nicht permanent wachsam sein muss.
Dass da zwischendurch etwas Weiches ist. Etwas Tragendes.
Und manchmal ist genau das genug, um einen fordernden Tag ein kleines Stück leichter zu machen.
Wissenschaftlicher Hintergrund
Kurzfassung
Glimmers sind kleine Sinneseindrücke, die dem Nervensystem Sicherheit signalisieren.
Sie wirken nicht, weil sie Probleme lösen, sondern weil sie dem Körper kurzfristig zeigen: Im Moment ist alles okay.
Die Polyvagal-Theorie erklärt, warum solche Mikromomente wichtig sind: Unser autonomes Nervensystem reagiert ständig auf Signale von Sicherheit oder Gefahr – oft unbewusst. Kurze positive Wahrnehmungen können helfen, Stressreaktionen zu dämpfen und emotionale Regulation zu unterstützen, besonders in belastenden Alltagsphasen.
Vertiefung: Wissenschaftliche Einordnung
Der Begriff Glimmers geht auf die US-amerikanische Traumatherapeutin Deb Dana zurück. In ihrer Arbeit mit der Polyvagal-Theorie beschreibt sie Glimmers als bewusste oder unbewusste Reize, die dem autonomen Nervensystem Sicherheit signalisieren (Dana, 2018). Sie bilden damit das Gegenstück zu sogenannten Triggern, die Stress- oder Alarmreaktionen auslösen.
Die Polyvagal-Theorie, entwickelt von Stephen W. Porges, erweitert das klassische Verständnis des autonomen Nervensystems. Sie zeigt, dass unser Nervensystem nicht nur zwischen Anspannung (Sympathikus) und Entspannung (Parasympathikus) unterscheidet, sondern kontinuierlich bewertet, ob eine Situation als sicher, bedrohlich oder potenziell gefährlich wahrgenommen wird (Porges, 2011). Diese unbewusste Bewertung wird als Neurozeption bezeichnet und beeinflusst maßgeblich unser emotionales Erleben, unser Bindungsverhalten und unsere Stressreaktionen.
Glimmers wirken genau auf dieser Ebene der Neurozeption. Sie sind kleine Signale, die dem Nervensystem vermitteln, dass im aktuellen Moment keine Gefahr besteht. Dadurch kann sich das System kurzfristig aus einem Zustand erhöhter Wachsamkeit lösen und in einen regulierteren Zustand zurückfinden. Besonders relevant ist dabei der sogenannte ventrale Vagusnerv, der mit sozialer Verbundenheit, emotionaler Regulation und einem subjektiven Gefühl von Sicherheit in Zusammenhang steht.
Empirische Forschung zur Stress- und Emotionsregulation unterstützt diesen Ansatz. Studien zeigen, dass kurze positive Sinnesreize – etwa angenehme visuelle Eindrücke, beruhigende Geräusche oder körperliche Wärme – messbare Auswirkungen auf physiologische Stressmarker haben können, darunter Herzfrequenz, Herzratenvariabilität und Cortisolspiegel (Thayer & Lane, 2000; Fredrickson, 2001). Solche Mikromomente positiver Wahrnehmung tragen dazu bei, das Nervensystem zu stabilisieren, ohne dass dafür bewusste Entspannungsübungen oder längere Auszeiten notwendig sind.
Gerade im Alltag von Eltern – insbesondere von Müttern – kann diese Form der mikroskopischen Regulation eine wichtige Rolle spielen. Wenn Belastung nicht punktuell, sondern dauerhaft vorhanden ist, sind es oft nicht große Erholungsphasen, sondern wiederkehrende kleine Momente von Sicherheit, die langfristig zur emotionalen Stabilisierung beitragen.
Zum Mitnehmen
Du musst nichts reparieren.
Du musst nichts optimieren.
Vielleicht darfst du nur anfangen, die kleinen Momente wahrzunehmen,
die ohnehin schon da sind.
Die leise glimmen.
Und dich tragen.

Literaturverzeichnis
Dana, D. (2018).
The Polyvagal Theory in Therapy: Engaging the Rhythm of Regulation.
New York: W. W. Norton & Company.
Dana, D. (2020).
Anchored: How to Befriend Your Nervous System Using Polyvagal Theory.
Boulder, CO: Sounds True.
Porges, S. W. (2011).
The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation.
New York: W. W. Norton & Company.
Porges, S. W., & Dana, D. (2018).
Clinical Applications of the Polyvagal Theory: The Emergence of Polyvagal-Informed Therapies.
New York: W. W. Norton & Company.
Fredrickson, B. L. (2001).
The role of positive emotions in positive psychology: The broaden-and-build theory of positive emotions.
American Psychologist, 56(3), 218–226.
https://doi.org/10.1037/0003-066X.56.3.218
Thayer, J. F., & Lane, R. D. (2000).
A model of neurovisceral integration in emotion regulation and dysregulation.
Journal of Affective Disorders, 61(3), 201–216.
https://doi.org/10.1016/S0165-0327(00)00338-4
Hinweis
Die Inhalte dieses Artikels dienen der Information, Selbstreflexion und Einordnung.
Sie stellen keine medizinische, psychologische oder therapeutische Beratung oder Behandlung dar und ersetzen diese nicht.
Bei anhaltender psychischer Belastung, starken Stresssymptomen oder gesundheitlichen Beschwerden wende dich bitte an qualifizierte Fachpersonen (z. B. Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen).
